| Flüchtlinge

Psychotherapie mit traumatisierten Flüchtlingen

"Wir wollen, dass sie wieder aufrecht gehen können"

Dieter David ist Psychologe und leitet die Psychologische Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart, Zentrum der Beratung, Begutachtung und Psychotherapie für Überlebende traumatischer Gewalt (eva). Hinter dem langen Namen verbergen sich insgesamt sechs Psychologinnen und Psychologen, drei Ärzte, einige Sozialarbeiter und Künstler, die sich als feste oder freie Mitarbeiter um Überlebende traumatischer Gewalt kümmern. Der derzeitige Zuzug vieler Flüchtlinge aus Krisengebieten Asiens und Afrikas stellt das Team vor besondere Herausforderungen. Ute Dilg hat mit Dieter David gesprochen.

Evangelische Gesellschaft Stuttgart

Sie haben einiges zu tun angesichts der vielen Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen. Wie lange dauert es, bei Ihnen einen Termin zu bekommen?

Wir haben momentan eine Wartezeit von neun Monaten. Sie müssen sich vorstellen, dass die Überweisungsquote in den vergangenen drei Monaten um 200 Prozent gestiegen ist verglichen mit dem Vorjahreszeitraum. Allerdings gibt es auch Personen, die sofort einen Termin bei uns bekommen. Etwa alleinstehende Frauen, die durch Gewalterfahrungen traumatisiert sind und ohne männlichen Schutz einreisen. Und für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, sogenannte UMF, bieten wir laufend Gruppentermine an. Generell muss man sagen, dass nicht alle, die derzeit zu uns überwiesen werden, auch eine Behandlung brauchen. Viele leiden unter Konflikten in den Sammelunterkünften, haben Angst, schlafen schlecht und werden deshalb auffällig. Wir betreiben auch Krisenintervention aufgrund von Gewalt in den Sammelunterkünften, damit die Leute nicht davon krank werden. 

Woher kommen die Menschen, die Sie dann beraten oder behandeln?

Viele kommen aus den Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens, also aus Syrien, dem Irak, Iran oder aus Afghanistan. Dazu kommen Menschen aus Nigeria, die von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram vertrieben wurden, und vom Balkan. Letztere sind meist schwer kranke Roma. Und wir begleiten eine Gruppe von 15 ehemaligen jesidischen Sexsklavinnen aus dem Irak. Sie haben schreckliche und grausame Erfahrungen während ihrer Gefangenschaft beim IS gemacht.

Welche Symptome zeigen die Flüchtlinge?

Sie verhalten sich häufig abwesend, leben in ihrer eigenen Welt. Viele haben Depressionen und gehen kaum aus dem Haus. Dazu kommen Angstzustände, Wut, bei den jesidischen Gewaltopfern zum Teil auch Hass und Rachegedanken. Viele schlafen sehr schlecht, weil sie schreckliche Träume haben. Andere gehen aus Angst vor Albträumen gar nicht erst ins Bett. Dazu kommt, dass es in vielen Asylheimen einfach sehr laut ist. Sie sind deshalb permanent in Alarmbereitschaft. Appetitlosigkeit ist auch ein Symptom. Manche sind so dünn, dass man das Gefühl hat, sie würden umfallen, wenn man sie nur anschaut.

Wie gehen Sie damit um? Wie sieht eine Behandlung aus?

Wir sprechen erst mal mit den Leuten, um zu sehen, ob eine ambulante Traumatherapie nötig ist. Das dauert in der Regel drei Sitzungen. Wenn die Patienten auch chronische körperliche Schmerzen haben, werden sie noch von einer Internistin untersucht. Je nach Diagnose und nach Rücksprache mit den behandelnden Fachärzten und Psychiatern wird dann die Psychotherapie fortgeführt. 

Gibt es da keine sprachlichen Hürden?

Wenn keiner im Team die Sprache des Patienten spricht, dann ziehen wir Dolmetscher hinzu. Bei Flüchtlingen ist das meistens so. Wir arbeiten mit etwa dreißig Dolmetschern zusammen. Das sind Menschen, die psychisch stabil sind und nicht zusammenbrechen, wenn sie schlimme Geschichten und lebensbedrohliche Erlebnisse übersetzen müssen. Dennoch sind die Gespräche gerade für die arabisch sprechenden Dolmetscher momentan sehr belastend. 

Wie lange dauert so eine Behandlung? Und woran machen Sie fest, dass dann jemand wieder in ein halbwegs normales Leben zurückfinden kann?

Die Psychotherapie dauert normalerweise 25 bis 30 ein- bis zweistündige Sitzungen. Manchmal auch länger. Ob sie erfolgreich ist, sehen wir, wenn die Patienten es schaffen, die Rolle des Opfers zu verlassen. Als Opfer empfinden sie Angst, Scham, Schuld und das Gefühl, nichts wert zu sein. Wir wollen, dass sie zu vitalen Überlebenden werden. Wir wollen, dass sie wieder lachen können, aufrecht durch die Straßen gehen, einkaufen, in ihren Deutschkurs gehen, in irgendeiner Form arbeiten, sich um ihre Kinder kümmern oder einen Führerschein machen. Ein wichtiges Indiz, dass es Patienten besser geht, ist, wenn sie es schaffen, einfach nur spazieren zu gehen. Außerdem reduzieren wir im Zuge der Psychotherapie die Psychopharmaka-Dosis, die sie einnehmen. 

Sie bieten Ihren Patienten im Rahmen der Therapie an, verschiedene Gruppen zu besuchen. Wie muss man sich das vorstellen?

Es handelt sich um Kunstgruppen. Jeder, der ein Talent zeigt oder Interesse hat, kann dort seinen Neigungen nachgehen. Sie können tanzen, Theater spielen, nähen lernen, einen Computerkurs belegen usw. Wir Therapeuten schauen uns dann an, wie sich unsere Patienten dort verhalten. Wenn eine vergewaltigte Frau tanzt oder Theater spielt, und zwar in einer gemischten Gruppe auch mit Männern zusammen, dann ist sie ganz klar auf dem Weg der Besserung. Bei unserer letzten Weihnachtsfeier etwa hat eine afghanische Frau, die im Heimatland mehrfach vergewaltigt und dabei auch körperlich verletzt worden ist, vor ungefähr fünfzig Leuten Lieder vorgesungen. Alle haben geklatscht. Das war sehr wichtig für sie. Denn sie hat dadurch erfahren, dass sie etwas kann und etwas wert ist. 

Sie sind sechs Psychologinnen und Psychologen im Team. Reicht das denn aus?

Wir machen alle Überstunden. Und ein Teil der freien Kolleginnen und Kollegen arbeitet auch ehrenamtlich. Das geht auf Dauer nicht. Wir bekommen nun von der Landeskirche und dem Land Baden-Württemberg zusätzliche Mittel. Davon wollen wir zwei neue Stellen für Psychologen einrichten und weitere freie Mitarbeiter beschäftigen. Denn der große Ansturm kommt ja erst noch. Viele Flüchtlinge kommen erst einige Monate nach ihrer Ankunft zu uns, wenn der erste Druck weg ist und die Probleme hier anfangen, wenn das Heimweh einsetzt, sie in der Enge der Unterkünfte nicht zurechtkommen. Ganz wichtig ist dann, dass sie sich hier ein soziales Umfeld schaffen, das trägt. Denn dann brauchen viele gar keine Psychotherapie. 

Herr David, vielen Dank für das Gespräch.


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